Wo steckt meine Schwester?

Panait Istratis Jahrhundertroman «Kyra Kyralina»

Um Sehnsucht und Fernweh geht es in «Kyra Kyralina» (1923), in dem Romanerstling des franko-rumänischen Schriftstellers Panait Istrati. Darin wird ein Orient am Ende des 19. Jahrhunderts heraufbeschworen, wie man ihn sich zu jener Zeit in Frankreich vielleicht vorstellen mochte: ruchlos und entfesselt, mit Schurken und Banditen, viel Weihrauch, freizügigen Jungfern und einem vom Leben gezeichneten tragischen Helden, dem wenigstens immer wieder die Flucht gelingt. Es ist ein Orient, der sich mit dem Osmanischen Reich bis ins rumänische Donaudelta erstreckt und sich so mit den Sitten und Gebräuchen vor Ort vermengt, mit den Geschichten, die, verschachtelt erzählt, von der grenzenlosen Freiheit handeln und ebenso von der hoffnungslosen Unfreiheit.
Panait Istrati ist ein Fabulierer, sein Herz gehörte den kleinen Leuten sowohl auf dem Balkan als auch im Nahen Osten. Als Erzähler in seinem Romanerstling fungiert Stavru, ein Limonadenverkäufer, der einen beachtlichen Abstieg vom wohlhabenden Ehemann zum einsamen Bettler vollzogen hat und genau darüber berichtet. Angetrieben von der Frage, wo seine schöne Schwester abgeblieben ist, in welchem Harem, führt ihn seine abenteuerliche Reise von Braila an der Donau über Konstantinopel, Damaskus, Beirut und Kairo ... zurück nach Braila.
Istratis Leben war nicht minder ereignisreich. Sein Freund Nikos Kazantzakis soll die Figur des Zorbas nach Istratis Vorbild entworfen haben, und er liess diesen von Rumänien als vom Paradies auf Erden schwärmen.
«Kyra Kyralina» erschien zunächst auf Französisch, mit einem begeisterten Vorwort von Romain Rolland, und wurde dann vom Autor selber ins Rumänische übersetzt.
Die rumänische Vorlage übersetzte dann der rumäniendeutsche Lyriker Oskar Pastior zu Beginn der Sechzigerjahre ins Deutsche. Es waren die grauen Jahre des kommunistischen Regimes, kurz bevor Nicolae Ceausescu an die Macht kam. Oskar Pastior arbeitete damals bei der deutschsprachigen Redaktion des staatlichen rumänischen Rundfunks. Das Auflebenlassen der orientalischen Welt aus «Kyra Kyralina» muss für ihn schon während des Übersetzens ein subversiver Akt der persönlichen Befriedigung gewesen sein.
Für die deutsche Neuausgabe des Romans hat nun Mircea Cartarescu ein klärenden Nachwort verfasst, in dem er auch auf die Rezeption eingeht. Ich selbst hatte den Roman als Heranwachsende gelesen, dann wiedergelesen und immer wieder gelesen ...

Dana Grigorcea

Panait Istrati, «Kyra Kyralina», Roman, aus dem Rumänischen von
Oskar Pastior, mit einem Nachwort von Mircea Cartarescu,
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016, brosch., 160 Seiten.

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