Totenwagen Geschichte

Russland heute I/V: Lebedews Roman Menschen im August

Sergej Lebedew erzählt in «Menschen im August» von den Gefühlen, die vom Kampf um die Macht im armen, vom Ersten Weltkrieg ausgebluteten Russland hervorgerufen wurden und die seitdem in der Geschichte des Landes widerhallen. Der umfangreiche, heterogene Roman enthält allerdings eine tiefe, wenn auch subjektive Analyse der Neunzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die heute als eine Anregung zur Diskussion der schwierigen historischen Themen dienen könnte. Ja, könnte. Denn für die meisten Russen ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts noch so grauenvoll, dass sie den von Lebedew beschriebenen Totenwagen russischer Geschichte kaum ansehen wollen.
So ergeht es im Buch auch Grossmutter Tanja, als sie nach ihren Toten suchen musste. «Wie sollte man jemanden erkennen, wenn man nicht hinschauen konnte?», fragt sich der Protagonist. Trotzdem muss man früher oder später hinschauen, und eben das macht Sergej Lebedew.
Im Roman schlägt er uns zwei unterschiedliche Annäherungen an die omnipräsente Vater-Sohn-Frage vor. Der Vater des Protagonisten geht in die Richtung des Positiven und versucht, Adressen von 17 Wohnungen in mehreren Städten zu finden. Doch von diesen 17 findet er keine einzige, nicht einmal die dazugehörigen Strassen. Die Wirklichkeit ist auch verschwommen. Der Protagonist selber geht aber in Richtung des Negativen, vertieft sich in die Welt, die die Staatssicherheit für sich beansprucht; oder in den Worten Klimows, einer wesentlichen Figur des Romans: «Er wildert in ihrem Revier, ohne um Erlaubnis zu fragen.» Der Sohn und nicht sein Vater findet die Antworten auf die Fragen, die das Leben des Grossvaters gestellt hat. Er entdeckt dessen Dossier, für das er dem geldgierigen Klimow mehrmals bezahlen muss. Zuletzt zahlt er mit dem Leben.

Swjatoslaw Gorodezkij

Sergej Lebedew, «Menschen im August», Roman,
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015, geb., 368 Seiten.

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