Weil in meinen Adern Blut fliesst

Zu Gerhard Meisters Eine Lichtsekunde über meinem Kopf

Wieder erfrischt uns der Berner Gerhard Meister mit beziehungsreichen Texten – diesmal nicht mit einem Stück, einem Hörspiel oder einem seiner schwindelerregend vielschichtigen Sprechtexte, sondern mit Gedichten.
In «Eine Lichtsekunde über meinem Kopf» ruft er für uns den Mond und die Sterne an, besingt die Ausweglosigkeit des Alltags, verzurrt, fernab jeder Bildungshuberei, altsprachliche mit alltagssprachlichen Bezügen – ganz so, als ob er selbst, die Hände in den Hosentaschen, ein Liedchen auf den Lippen, aus jener längst untergangenen Zeit in unsere Gegengenwart herausträte und, die Hände zu einem Trichter vor dem Mund geformt, uns dann zuriefe: «Nobis cum semel occidit brevis lux / Nox est perpetua una dormienda!» (Wenn unser kurzes Licht einmal untergegangen ist, steht uns eine einzige immerwährende Nacht des Schlafes bevor; Catull, «Carmen, 5».)
Denn Meister ist der spielende Demiurg unter den Schweizer Dichtern; der Mond, eine Lichtsekunde über seinem Kopf, erscheint in seinen Gedichten als sein gezeitentreibender Trabant – darunter macht er es nicht.
Wenn im Gedicht «am Platzspitz» der erwähnte Catull mit Joyce und Lesbia und Rilke wahlweise «im nackten Geäst» des Laubbaums sitzt oder, in Fluntern, in Hollywood oder selbst im Hades, zu Staub geworden ist, dann kommt das keinem memento mori gleich, sondern der nüchternen Quintessenz aus unserer Gegenwart: «ich habe sie dort hingesetzt / ausgestopfte Vögel die leben / weil in meinen Adern Blut fliesst».
Und doch: die Gesellschaft der Lebenden ist immer vorübergehend. «Oh Schüchternheit / nichts wird uns trennen / als der Tod» (aus: «mein Platz an der Mauer (hymnisch)»). Ein wundervoller Band!

Perikles Monioudis

Gerhard Meister, «Eine Lichtsekunde über meinem Kopf», Gedichte,
mit Illustr. v. Luca Schenardi, Der gesunde Menschenversand,
Luzern 2016, geb., 111 Seiten.

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