Im Transit

Entre nous, Johanna Lier!

Johanna, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
Unterwegs. Im Zug. Auf Wiesen. In Wäldern. In Kneipen. In fremden Zimmern. In Chile. In der Ukraine. In Israel. In Österreich. In Deutschland. In der Schweiz. In vier verschiedenen Wohnungen in Zürich. Und im Bett.

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Migration. In meinem Roman «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» geht es darum, dass es das, was heute als Krise angeschaut wird, schon immer gegeben hat und immer geben wird. Dass wir vermutlich (fast) alle irgendwann von irgendwoher gekommen sind. In Clarice Lispectors Worten: Die Menschen unterscheiden sich nicht aufgrund ihrer Substanz und Beschaffenheit als vielmehr durch den Rhythmus und die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen. Es geht darum, mit den Zähnen den Tod aufzuknacken und mit der Zunge ein Stück Gold zu finden. Nochmals Clarice Lispector: Mir hat von einem Esel geträumt. Ein Königreich bekomme ich.
Es geht auch um das Erinnern und das Erzählen. In Max Frischs Worten: Wann wird aus Erinnerung eine Fiktion? Was an der Fiktion ist Erinnerung? Ist das eine ohne das andere denkbar? Es geht um die abenteuerliche und beschwerliche Reise der Selma Einzig. Die ich nicht nur ihres einzigartigen Namens wegen liebe, denn … the feeling of intensity is the feeling to be alive: I love life / I love my life / I love my being alive … Es geht um die schwarze Vagabundin Hannah Yuter. Die mindestens zehn (verrückte) Leben hatte. Und um die Erfindung der Nudelindustrie in der Schweiz.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Da ich an den Aussengrenzen Europas im Bereich der Seenotrettung arbeite, prägt das zurzeit (fast) alles, was ich mache. Menschen, die sich von ihren schlimmsten Seiten zeigen. Und andere, die – oft wider Willen – ihre besten Seiten entdecken.
Mich interessieren Grenzen. Grenzen zwischen Armut und Wohlstand. Norden und Süden. Tradition und Moderne. Sicherheit und Verlassenheit. Die (unüberwindbare) Grenze zwischen einem Ertrinkungstod im Meer und einem Wellnessurlaub am Meer. Die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft. Mich interessieren die Transiträume. Mich interessiert das Motiv der Zumutung. Der (ungefragt) erteilten Verantwortung.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit? Mich hat schon immer interessiert, warum Menschen so grausam sein können. Diese Grenze zwischen Liebe und Zerstörungswut.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Wow! Unglaublich! Ich fühle diese zwei Worte. Weil ich erstaunt bin, dass ich es geschafft hab’. Dass nun tatsächlich nach zehn Jahren Arbeit ein Buch geworden ist! Und ich eine so wunderbare Verlegerin gefunden hab.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Ich wäre überglücklich, wenn gesehen würde, dass die Ereignisse von damals die Ereignisse von heute spiegeln … Und das Buch als ein fabulierendes Manifest für das freie Planetenbürgerinnentum gelesen würde … Aber ich schreibe die Rezensionen ja nicht selbst!

Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Nun ja. Das Leben geht weiter. Jetzt beginnt etwas Neues … Ich fühle mich befreit!

Johanna Lier, «Wie die Milch aus dem Schaf kommt»,
Roman, verlag die brotsuppe, Biel 2019, geb., 495 Seiten.

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