Die Würde des Menschen

Entre nous, Stefan Keller!

Stefan, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
Ich habe die Reportage «Spuren der Arbeit» beim Zeitungslesen, beim Lesen alter Briefe und Dokumente, in unzähligen Archiven, zuhause in Zürich, in unserer Hütte im Jura. Am Schluss nur noch in Zürich und unter allergrösstem Stress. Der Abgabetermin!

Worum geht es Deiner Meinung nach in Deinem Buch?
Ich versuche, Geschichte und Geschichten der arbeitenden Leute in den letzten zweihundert Jahren aus der Sicht von arbeitenden Leuten zu erzählen. Das tönt eigentlich selbstverständlich, wird aber normalerweise anders gemacht. Es geht also um Geschichte von unten.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Ich werde ab und zu gefragt, ob ich nicht zu dieser oder jener prominenten Figur der Zeitgeschichte etwas schreiben könnte. Und jedes Mal merke ich, dass mich eher die Anonymen interessieren, die in der Öffentlichkeit unbekannt sind. Also nicht der Pfarrer, sondern die Pfarrköchin. Nicht der Unternehmer, sondern die Arbeiterin, die beim Arbeiten beide Hände verliert und bis vor Bundesgericht prozessieren muss, um eine anständige Entschädigung zu erhalten. Die Sekretärin, die rasch ins Archiv geht, um etwas zu holen, und später tot aufgefunden wird – erdrückt vom automatischen Archivschrank. Ich lese mit grösster Passion die Nachrufe so genannt einfacher Leute in Lokalzeitungen. Der Garagist, der ein Leben lang gearbeitet hat und dann noch jasste, so lange es ging. Das ist nicht langweilig, sondern interessant für mich. Es geht um die Würde des Menschen.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Eindeutig ein Leitmotiv seit vielen Jahren. Ich habe auch die Geschichte der Flüchtlinge im Nationalsozialismus aus der Sicht dieser Flüchtlinge erzählt und nicht aus der Sicht der Berner Beamten, wie es üblich war.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Es war diesmal schlimm. Das Buch war ein Auftrag des Amtes für Arbeit und Wirtschaft im Kanton Thurgau, aber nicht etwa als brave Festschrift zum 100. Geburtstag dieses Amtes, sondern als unabhängiges Buch. Es war ja bekannt, wie kritisch ich schreibe. Und weil ich viele Jahre lang Material über die Geschichte der Arbeitenden gesammelt hatte, wollte ich jetzt alles reinstecken, was ich wusste und konnte: Hunderte von Biografien, die regionale Geschichte und die Alltagsgeschichte als Weltgeschichte erzählt. Ich bin der Meinung, dass selbst das kleinste und lokalste Ereignis, wenn man es nur genau genug anschaut, zur Weltgeschichte wird. Am Schluss bin ich mit dem Buch um Jahre zu spät, aber gerade noch rechtzeitig zum Jubiläum fertiggeworden.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buches?
Ich möchte, dass es auf keinen Fall nur als regionales Buch – es spielt in der Ostschweiz und hauptsächlich im Kanton Thurgau – wahrgenommen wird, sondern eben exemplarisch als Geschichte des Arbeitens. Mein grösstes Vorbild sind die französischen Historiker der Ecole des Annales, die zum Beispiel anhand eines kleinen Dorfes irgendwo in den Pyrenäen eine Sozialgeschichte des Mittelalters erzählen konnten.

Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Es ist womöglich die letzte historische Grossreportage, die ich geschrieben habe. Aber vielleicht bin ich auch nur zu erschöpft im Moment. Was folgt sind viele kleine dokumentarische Geschichten, Fragmente, zertrümmertes Leben, gelebte oder ungelebte Träume – meine Festplatte ist voll mit solchem Material, das ich erzählen möchte. Was auch noch folgt ist eine als Roman getarnte Darstellung meiner familiären Mythen und des Lebens meiner Grossmutter, einer Schweinezüchterin. Ich war als Kind in der Lage, vielen alten Tanten und auch den Nachbarn scheinbar verständnisvoll zuzuhören, wenn sie von früher erzählten. So weiss ich Dinge über das Leben meiner Vorfahren, die nicht einmal meine Eltern wussten.


Stefan Keller, «Spuren der Arbeit. Von der Manufaktur zur Serverfarm», Reportage, Rotpunktverlag, Zürich 2020, geb., 232 Seiten.

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