Lüge, Liebe, Rückeroberung

Entre nous, Martina Clavadetscher!

Martina, wo hast Du Dein Buch geschrieben?
Zwei der drei Teile meines Romans «Die Erfindung des Ungehorsams» schrieb ich in Berlin am LCB – mit Blick auf den Wannsee. Den Mittelteil des Romans schrieb ich hingegen in der Schweiz; ich erinnere mich, dass es Winter war, grauer Januar – und ich weiss, dass ich unfassbar traurig war, weil damals kurz zuvor ein guter Freund verstorben war.

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Es geht um Herkunft, um Körperlichkeit, um Fremd- und Selbstbestimmung. Und es geht stark um das Erzählen selbst. Erzählen als Befreiung, als Akt der Selbständigkeit.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Die Bestimmung und Beeinflussung durch Worte und Bilder faszinieren mich. Die Erschaffung von Rollen, Rollenbildern – und damit zusammenhängend auch immer wieder: die Kraft der Worte, der Sprache, die Kraft des Erzählens. Sie formt und prägt Menschen. Ganze Gesellschaften erhalten so ihre Geschichten (Mehrzahl) und ihre Geschichte (Einzahl).
Macht bedeutet auch immer eine Macht über die Worte, die Wortwahl, die Art, was wie erzählt wird. Politik und Medien nutzen heutzutage diese Werkzeuge des Storytellings schamloser denn je. Und sie vergessen dabei, dass sie eigentlich der Wahrheit und dem Volk, das sie vertreten, verpflichtet sind. Denn die Lüge und die gestaltete Lüge – die Fiktion – gehören alleine der Kunst. Wir sollten sie uns zurückerobern. Das interessiert mich.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Neu sind diese Themen nicht, nein; und es mag gut sein, dass das Erzählen selbst immer wieder ein Leitmotiv meiner Arbeit ist. Bei «Knochenlieder» war das so, und es ist bei «Die Erfindung des Ungehorsams» so, auch in den Theaterstücken «Umständliche Rettung» und «Frau Ada denkt Unerhörtes» spielt das Erzählen selbst eine grosse Rolle. Also tatsächlich etwas, das unterschwellig in mir brodelt und immer wieder den Weg an die Textoberfläche findet.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Wie gesagt, einerseits war da diese Trauer des Januars, andererseits gab es die warmen und leichten Tage in Berlin. Vieles schrieb ich mit einer kindlichen Freude, die Recherchen waren zwar intensiv, aber die Umsetzung im Schreibprozess, die Bilder, Figuren und Anspielungen waren mir ein buntes Fest. Die Überarbeitung zog sich hin, weil die Verschachtelung des Textes seine Tücken aufwies, manchmal habe ich das Manuskript beschimpft, manchmal habe ich es liebevoll gekrault – und am Schluss wurde es genauso, wie es selbst sein wollte.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Nein, Erwartungen nicht. Aber ich nehme an, dass die Fragen zur Körperlichkeit bzw. zu den künstlichen Körpern stark im Zentrum stehen werden: die Sexpuppen – obwohl ich im Roman selbst dieses Wort bewusst kein einziges Mal verwendet habe.
Diesbezüglich wünsche ich mir, dass die Puppenthematik sehr differenziert und auch weitgehender betrachtet wird: Weshalb werden diese Menschenabbilder geschaffen? Was sagt das über die Wünsche, Bedürfnisse, Unfähigkeiten der Menschen aus? Welche Hierarchien werden so geschaffen? Was unterscheidet biologische Menschen allenfalls von künstlichen Wesen? Und am Ende: Was macht uns Menschen aus?

Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Nüchtern gesehen ist das meine dritte Prosa-Publikation. Emotional gesehen ist es ein weiterer Schritt in eine Richtung, die sich sehr gut anfühlt. Eine Fortsetzung von etwas, das ich wirklich will. Und der Anfang von etwas, das ich noch viel mehr will.


Martina Clavadetscher, «Die Erfindung des Ungehorsams»,
Roman, Unionsverlag, Zürich 2021, geb. 288 Seiten.

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