Unrecht, Facetten

Entre nous, Matthias Jügler!

Matthias, wo hast Du Dein Buch geschrieben?
Unter anderem in der Lützner Straße im Westen Leipzigs. In einem Zimmer, das ich einen Winter lang nur mit Kerzen heizen konnte. Die meiste Zeit jedoch habe ich in Gedanken geschrieben. Ich glaube, 90% der Arbeit an »Die Verlassenen« machte aus, dass ich darüber nachdachte, wie ich was erzählen werde. Und das habe ich im Auto gemacht oder auf dem Rad, oder während ich darauf wartete, dass das Brot im Ofen fertig wird, oder während ich nachts angelnd an der Weißen Elster saß.

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Um Verrat, Verlust und ums Verzeihen. Und um die Kraft des Schweigens. Und darum, dass ein System noch Jahre nach seinem Zusammenbruch nachwirkt und seine Opfer fordert.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Unrecht in all seinen Facetten. Ich merke, dass mich das, was 1989 in der ehemaligen DDR zu Ende ging, nicht loslässt – eben weil es für so viele Menschen noch nicht vorbei ist. Ein System ist kollabiert, aber die Biografien der Menschen, die Opfer dieses Systems wurden, die gehen natürlich weiter. Und diese Menschen wiederum haben Kinder, die mit ihren gebrochenen Eltern leben müssen. Das interessiert mich.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Ich bin vor 10 Jahren auf dieses Thema gestoßen. Eher zufällig – aber seitdem geht mir das nicht mehr aus dem Kopf. Jahrelang, vor allem zu Schulzeiten, dachte ich, dass die DDR mich einfach nicht interessiert, eben weil es sie nicht mehr gibt, und – so mein Glaube – weil sie nicht mehr relevant ist, für niemanden. Aber das war ein Trugschluss. Und als ich merkte, dass diese Zeiten für sehr viele Menschen immer noch sehr relevant sind, habe ich begonnen mich literarisch damit auseinanderzusetzen.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Das war eine sehr intensive Zeit, in der sich auch für mich persönlich viele Weichen gestellt haben: Ich habe meine Frau kennengelernt, wir haben zwei Kinder bekommen, wir sind umgezogen, ich habe zwei Anthologien herausgegeben. Aber bei all dem, was da passiert ist – immer konnte und wollte und durfte ich mich an meinen Schreibtisch zurückziehen und am Buch arbeiten. Das habe ich jedes Mal sehr genossen.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Ich wünsche mir, dass »Die Verlassenen« viele LeserInnen findet, und ich wünsche mir, dass wir alle im Gespräch bleiben: Wie hast du das damals erlebt? Wie geht ihr heute damit um? Und so weiter. Im Prinzip ist das Buch ja auch so eine Art Einladung, um im Gespräch zu bleiben.

Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
»Die Verlassenen« ist mein zweiter Roman, und die Tatsache, dass ich nicht über eigenes Erleben geschrieben habe, war sehr befreiend für mich. Mein Debüt war ja durch und durch gesättigt von eigenem Erleben – was tun, wenn ein geliebter Mensch unheilbar krank wird?
Obwohl der Stoff also komplexer war in »Die Verlassenen«, war das Schreiben daran in gewisser Weise einfacher – eben weil der Stoff nicht in mein eigenes Leben gegriffen hat. So konnte ich mich den Figuren im Text besser nähern, und wenn ich bei meinem Debüt noch überlegt habe, ob ich dieses und jenes über meine Familie wirklich schreiben darf, so konnte ich bei »Die Verlassenen« einen fiktiven Raum betreten, in dem ich die Regeln bestimmt habe und niemanden um Absolution fragen musste. Das ist ja aber generell der Zauber von Fiktion (auch wenn sie, wie bei »Die Verlassenen«, auf einem wahren Kern beruht).

Matthias Jügler, »Die Verlassenen«, Roman,
Penguin Verlag, München 2021, geb., 176 Seiten.

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