Aufgeschlossen sein


Philipp Tingler
über die auch heute nötige Besinnung auf Gemeinsamkeiten und die Bewusstmachung der eigenen Befangenheiten und Irrationalitäten.


Die Anfrage zu diesem Text erreichte mich am Rande der Aufzeichnung für das Literarische Quartett in Berlin. Sie kennen die Sendung vielleicht, es ist eine traditionsreiche Bücherdiskussionsrunde des Zweiten Deutschen Fernsehens, und am Rande von deren Aufzeichnung bzw. Ausstrahlung sind auch noch zwei andere Dinge passiert, von denen ich Ihnen berichten möchte. Erstens erreichte mich nach Ausstrahlung die Zuschrift eines Zuschauers, der sich darüber beschwerte, dass ich in meiner Würdigung des neuen Buches des französischen Autors Emmanuel Carrère das Wort «Zwangsneurotiker» benutzt hätte. Der Begriff sei respektlos und meine Mimik sei obendrein despektierlich gewesen. So wie jetzt, wahrscheinlich. Zwangsneurotiker, also. Ich habe dieses Wort in der Tat verwendet und würde es auch immer noch verwenden, aber bei der monierten Erwähnung handelte es sich um ein wörtliches Zitat aus Carrères Buch. Dieses trägt übrigens den Titel «Yoga», und ich möchte es auch an dieser Stelle nachdrücklich empfehlen.
Zweitens erfuhr ich am Rande des Quartetts etwas mehr von der sich offenbar auch im deutschsprachigen Verlagswesen immer weiter ausbreitenden Praxis der sogenannten «Sensitivity Readings». Das ist die Bezeichnung für eine besondere Form des Lektorats. Bei der es darum geht, dass mutmaßliche Sachverständige, denen Sachverstand nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit zugeschrieben wird, literarische Texte gegenlesen. Um eine klischeefreie Darstellung von Minderheitenthemen wie etwa Behinderungen zu gewährleisten und sogenannte Diversität in die Literatur einzubringen. Hier spiegelt sich eine zeitgenössische Auffassung, nämlich die von Betroffenheit als Kompetenz. De facto werden bei Sensitivity Readings beispielsweise die geschilderten Haarfarben kritisiert oder sogenannte heteronormative Vorstellungswelten, wenn sich im Text eine Frau ihre Zukunft mit einem Mann ausmalt. Diese Beispiele habe ich mir nicht ausgedacht. Als sie mir berichtet wurden, dachte ich daran, wie ich gerade wieder als Jurymitglied beim Bachmannpreis
Bewerbungen für das damit verbundene Wettlesen erhalte, die mir von Verlagslektorinnen geschickt werden, die mir literarische Nachwuchshoffnungen vorschlagen, für die sie mir erstmal die bevorzugten Pronomen erklären und dann deren autofiktionale Schöpfungen ans Herz legen, die genderfluide Identität literarisch erfahrbar machen sollen.

Abnehmende Ambiguitätstoleranz
Soweit vorab die anekdotische Empirie. Was sagt das über die Zeit, in der wir leben? Zunächst scheinen mir das Zeichen zu sein für eine zunehmende soziale Unbeholfenheit und eine stärker werdende Hintergrundüberzeugung bei etlichen Leuten, dass man sich mit identitätspolitischen Anliegen getrost über Reflexion, Diskurs, Redefreiheit und auch Manieren hinwegsetzen könne. Darin enthalten ist aber nach meiner Einschätzung tieferliegend noch ein Hinweis auf etwas anderes. Nämlich: Eine gesteigerte Empfindlichkeit. Empfindlichkeit ist ja oft die Kehrseite von Unsicherheit. Unsere
stimulationsorientierte Kultur idealisiert die kreative Störung als sogenannte Disruption, ist aber andererseits fixiert auf  Störungsabwehr. Das, was ich Ihnen hier aus dem Milieu der etablierten literarischen Hochkultur berichte, ist problematisch und zugleich aufschlussreich, weil es ein Schlaglicht darauf wirft, wie sehr in gewissen Milieus inzwischen Uneindeutigkeit als Störung empfunden wird. Was heißt Uneindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit? Die Begriffe Ambivalenz und Ambiguität werden oft gleichbedeutend benutzt, um das Mehrdeutige zu bezeichnen. Man kann unterscheiden, dass Ambiguität eher eine Mehrdeutigkeit von Dingen und Situationen meint und Ambivalenz eher eine Beschreibung des inneren Zustands von Personen, einen Zustand der Zwiespältigkeit und Spannung, der Zerrissenheit der Gefühle und Bestrebungen, zum Beispiel verursacht von Uneindeutigkeit der äußeren Umstände.
Aber man kann auch beide Begriffe: Ambivalenz und Ambiguität, als Synonym für Mehr- oder Doppeldeutigkeit einsetzen. Fest steht: Das Unklare, Vage, Ambivalente ist ein Urzeichen der Moderne, sich verschärfend und zuspitzend bis in die spätmoderne Epoche hinein, in der wir leben, und die ist geprägt von Beschleunigung, Entgrenzung, Verflüssigung, Erschöpfung, von gebrochenen Perspektiven und mehrsträngigem Erzählen – und zugleich von der Nervosität einer Multioptionsgesellschaft, die immer weniger bereit scheint, ihre Vielzahl von Möglichkeiten zu ertragen.
Der Philosoph Robert Pfaller stellt dazu fest, dass man von einem erwachsenen Menschen ein gewisses Maß an Ambivalenzfähigkeit und Alteritätserfahrung erwarten können müsse, also die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und Kontexte wahrzunehmen, auszuhalten und zu bewältigen. Dass dieses Vermögen sozusagen zur Definition von aufgeklärter Erwachsenheit gehöre. Heute nicht mehr, wie Pfaller selbst anfügt. In seinen neuesten Büchern analysiert er eine soziale Infantilisierung, die von Manierenverfall begleitet wird. Und der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer schreibt in seinem Essay «Die Vereindeutigung der Welt», dass unsere Zeit vor allem durch eine abnehmende Ambiguitätstoleranz gekennzeichnet sei, also eine schwindende Fähigkeit, mit dem Schwebenden, Diffusen, Uneindeutigen umzugehen. Das Unbestimmte ist die Störung, die immer weniger ertragen wird. Popkulturell, so Bauer, äußere sich diese Sehnsucht nach Eindeutigkeit etwa in der Zunahme von Quiz- und Krimiformaten. Denn dies sind Formate mit eindeutigen Lösungen.

Symbolhandlungen und politischer Kitsch
Daran sehen wir schon: Das Zurückschrecken vor Ambivalenz produziert kulturell gesehen immer mehr Kitsch. Manche Leute denken, Kitsch sei Lüge, aber das stimmt nicht. Kitsch ist Klischee. Kitsch wirkt sofort erleichternd, denn Kitsch ist nicht ambivalent. Kitsch suggeriert Eindeutigkeit. Kitsch offeriert die Ordnung der Welt, das Ende des Unbestimmten. Kitsch beseitigt die Störung. Der Preis dafür ist das Klischee. Wir erleben das in der Literatur bei Pascal Mercier und Sally Rooney, zum Beispiel. Aber auch in anderen Sphären. Etwa in der Politik. Politischer Kitsch, ein Zeichen antiliberaler Systeme, nimmt auch in Demokratien zu. Auch in der Politik ersetzt Kitsch Anschaulichkeit mit Übertreibung, ist wie in der Literatur ein Produkt angespannter Wirkungsabsicht und geltungssüchtigen Kalkulierens mit dem symbolischen Effekt.
Betrachten wir dazu als Beispiel einen Akt von politischem Kitsch hier in Zürich, meiner Heimatstadt, einen Akt der Streichung oder Kanzellierung, der Unsichtbarmachung durch Überdeckung. Ich spreche vom Cancelling historischer Fassaden. Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtete, der Begriff «Mohr» solle aus dem Zürcher Stadtbild verschwinden – der Stadtrat plane die Abdeckung von Inschriften und Motiven auf historischen Hausfassaden im Zürcher Niederdorf. Die Aktion mutet nicht zuletzt deshalb grotesk an, weil jetzt offenbar zunächst eine Baubewilligung für die Überdeckungen vorliegen muss, bisher gibt es nur Hinweisschilder, dass hier bald etwas unsichtbar
würde. Aber die Sache ist nicht harmlos. Sie ist kitschig, weil zwischen dem Ernsthaften und Oberflächlichen nicht mehr unterschieden und auf substanzielle Reflexion zugunsten von Effekthascherei und Symbolhandlungen verzichtet wird. Ich behandle ja buchstäblich nur noch die Oberfläche, wenn ich etwas überdecke. Die Bezeichnung als politischer Kitsch darf aber eben nicht verharmlosend verstanden werden. Kitsch ist gefährlich, Kitsch lähmt den Geist, Kitsch verhindert Debatten und Kitsch ist Methode und Ergebnis von Zensur.
In der Streichung diskreditierter Wörter zeigt sich nicht nur eine Sehnsucht nach Vereindeutigung, sondern auch eine Moralisierung der Sprache. Und ich meine hier nicht Worte, die indiskutabel sind, von denen wir das schon lange wissen und die man mit Recht nicht mehr benutzt. Sondern ich meine Wörter wie «Orient» oder «Stadtammann». Oder «Zwangsneurotiker». Ein moralisierender Sprachaktivismus, der Sprache politisch verstehen will als Medium der Repräsentation, nicht funktional als Medium der Verständigung, führt zur Komik der Groteske, wenn zum Beispiel in den Nachrichten des Rundfunks Berlin-Brandenburg von «Mitgliederinnen» gesprochen wird. Auf Kosten der Klarheit und Unbefangenheit soll Sprache zum Ausdruck von Sittsamkeitsmoden dienen, die nicht nur dem kindlichen Glauben anhängen, man könne alles korrekt und eineindeutig benennen, sondern der billigen Entlastungsvorstellung nachgeben, dass die Streichung böser Wörter realweltliche Problem löse.
Wir erleben hier nicht nur eine Tilgung von Wörtern. Sondern auch eine Umwertung, die unsere Zeit kennzeichnet: Emanzipation, der Prozess der Gleichberechtigung wird nicht mehr in erster Linie verstanden als das diskursive Erstreiten eigener Freiheiten, so wie ich das noch gemacht habe, in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als ich in Bern für Homorechte auf die Straße gegangen bin.

Autonomie als Selbstbehauptung
Stattdessen wird Emanzipation heute oft aufgefasst als das Aufbegehren gegen die gefühlten Unerhörtheiten der anderen, über deren vermutete Korrumpiertheit und Vorrechte sich zu empören Sache der mutmaßlich Schlechterweggekommenen ist. Dahinter steht nichts weniger als eine gewandelte Auffassung von Gesellschaft, nämlich die Überzeugung, dass wir als soziale Subjekte a priori immer schon gegnerisch zueinander stünden. Das Bild der feindlichen Gesellschaft. Der Andere ist hier von vornherein mein Gegner. Er behindert mich in meiner Entfaltung, er hat mehr Privilegien als ich. Und ich werde mich nie mit ihm versöhnen können. Auch das ist eine Vereindeutigung, wenngleich eine besonders trübsinnige.
Das Paradefeld dieser Vorstellung ist die Identitätspolitik. Identitätspolitik geht auf jeder Seite des politischen Spektrums einher mit der Unterstellung einer bedrohlich feindlichen Umwelt. Der Mensch fühlt sich hier verletzlich in die Gesellschaft gestellt. Seine Basis, die Chiffren seiner Existenz, sind nicht Courage, Vertrauen und Diskurs. Sondern Argwohn, Sorge und Angst. So wird neben der Emanzipation auch ein weiteres aufklärerisches Ideal negativ verdreht: Autonomie. Nicht mehr als Selbstbestimmung aufgefasst, sondern als Selbstbehauptung gegen eine widerstreitende Welt.
Autonomie als Selbstbehauptung – das ist ein fremdbestimmter Autonomiebegriff, vollkommen paradox, aber folgerichtig, wenn Identität aus Zugehörigkeit abgeleitet wird. Denn genau das ist Identität neuerdings: das Bewusstsein von Zugehörigkeit. Also nicht mehr das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein. Der Soziologe Armin Nassehi schreibt in seinem jüngsten Buch mit dem passenden Titel «Unbehagen»: Bis vor kurzem wurden gesellschaftliche Probleme als Ableitung aus der Unterscheidung von Kapital und Arbeit verstanden. Heute hingegen werden alle Fragen als Zugehörigkeitsfragen diskutiert. Viele Leute scheinen geradezu wild darauf, sich gemäß ihres vermuteten Wesens in die entsprechende Kohorte einzusortieren. Gemäß Nationalität oder Ernährungsdoktrin oder Körperform oder gefühltem sozialen Geschlecht oder Ethnizität, bei welcher allerdings eine gefühlte Komponente nur in bestimmte Richtungen zulässig ist, andernfalls wird selbiges Gefühl als kulturelle Aneignung verpönt.
In diesem Zugehörigkeitsbegehren drückt sich eine doppelte Eindeutigkeitssehnsucht aus. Nämlich nicht nur das (philosophisch absurde) Verlangen nach einem eindeutigen Selbst, authentisch und stabil in der Zeit, sondern auch der Wunsch, auf der richtigen Seite zu stehen. Dieser Wunsch gerät schnell in Konflikt mit pluralen Konzepten, der Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit. Weil er stets die Abgrenzung mit einschließt. Weil die vermeintliche essenzielle Differenz zum Anderen als Teil der identitären Wesensbestimmung immer schon mitgedacht wird. Nach dem Muster: Ich bin Schweizer, also anders als du. Ich bin schwul, also anders als du. Und so weiter. Das ist Identität als Gegenteil von Individualität und Zugehörigkeit als Gegensatz von Universalismus. Der Wunsch, eindeutig auf der richtigen Seite zu stehen, befördert auch die erwähnten Moralisierungen. Immer mehr Phänomene werden zu einer moralischen Angelegenheit, die keine sind: Schönheit, Reichtum, Gesundheit, Sprache, Dekarbonisierung. Zum Beispiel.

Kontingenz als Überforderung
Und jetzt? Was machen wir jetzt, meine Damen und Herren – um eine Anrede zu wiederholen, die kein Sensitivity Reading überstehen würde. Aber das würde dieser ganze Vortrag nicht. Wie sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber von abnehmender Ambiguitätstoleranz betroffen? Was ist nötig, um dieser Entwicklung zu begegnen?
Um mich diesen Fragen zu nähern, möchte ich gerne noch einen Begriff erwähnen, der mit der Mehrdeutigkeit in direktem Zusammenhang steht, nämlich den Begriff der Kontingenz. Man kann die Sozialgeschichte auch als einen Prozess betrachten, in dem sich ausdrückt, wie Gesellschaften mit Kontingenz umgehen. Kontingenz meint: Unsicherheiten, Zufälligkeiten, Unverfügbarkeiten, also die nicht planbaren Dynamiken und Phänomene, die weder notwendig noch unmöglich sind. Wir alle sind jeden Tag mit Kontingenz konfrontiert. Der Zug hat Verspätung. Die Wettervorhersage stimmt nicht.
Der Begriff der Kontingenz bezeichnet die grundsätzliche Offenheit, die Komplexität und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen und sozialer Prozesse. Lapidar ausgedrückt: Alles Mögliche kann passieren, muss aber nicht.
Demokratische Systeme bedeuten generell eine Kontingenzöffnung, also ein Sicheinlassen auf Mehrdeutigkeiten; autoritäre oder totalitäre Tendenzen streben demgegenüber in Richtung Kontingenzschließung, das heißt nach Vereindeutigung. Hier dürfen sehr viele Sachen nicht passieren.
Natürlich regnet es auch hier, wenn es nicht regnen soll, aber womöglich wandert der Meteorologe dafür ins Gefängnis. Für unsere Zeitdiagnose ist jetzt folgendes Paradox sehr interessant, auf das der Soziologe Hartmut Rosa hingewiesen hat: Wir erleben in verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft unter dem Etikett einer Öffnung eine tatsächliche Zunahme von Regelungen und Vorschriften.
Hartmut Rosa hat festgestellt, dass etwa bei der Geschlechterdebatte unter dem Anschein der Kontingenzöffnung, also der Abkehr von einer binär codierten Geschlechterordnung, unmittelbar neue Kontingenzschließungen etabliert werden, zum Beispiel in Form von Haftbarkeitsrichtlinien, Sprachregelungen, Quotierungen. Das Gleiche können Sie feststellen für das Phänomen der «Diversität». Auch hier werden als Reaktion auf gesellschaftliche Vielfalt feingefächerte Kategorien und Regelungen und Zuordnungen geschaffen, die bindend und vereindeutigend wirken sollen. Die Idee der Diversität wird damit paradoxerweise zu einem identitätspolitischen Ordnungsschema, zu einem
schematischen Bewältigungsmechanismus von Mehrdeutigkeit, man könnte auch sagen: zu ihrem Gegenteil. Warum? Warum passiert das? Weil Kontingenzschließungen wegen der Eindeutigkeit und Berechenbarkeit, die sie suggerieren, auf die menschliche Psyche entlastend wirken. Wenn hingegen in differenzierteren Gesellschaften die Handlungsoptionen und Lebensgestalten zunehmen, werden Kontingenzerfahrungen wahrscheinlicher. Das können nicht alle Leute gleich gut aushalten.
Quotierungen sind etwas, was Arbeitgeber betrifft. Was zum Beispiel auch mich betrifft, wenn ich gelegentlich als Quasi-Arbeitgeber auftrete. Also etwa vor der Entscheidung stehe: Welche Titel soll ich für den Literaturclub oder das Literarische Quartett oder die SRF-Bestenliste auswählen? Welche Bewerbungen soll ich für den Bachmannpreis nominieren? Und ich sage Ihnen gern, was hier mein Leitgedanke ist: Aufgeschlossenheit. Politiken und Quoten dürfen nicht an die Stelle von Aufgeschlossenheiten treten. Kontingenz lässt sich nur durch Aufgeschlossenheit bewältigen. Ich habe mich gerade wieder mit Theodor Fontane beschäftigt, genauer: mit Fontanes berühmtem Gesellschaftsroman «Effi Briest» von 1896, dessen zeitlose Botschaft man wie folgt erkennen kann: Angesichts von Uneindeutigkeiten und Unvorhersehbarkeiten hilft für die Zivilisierung der Gesellschaft nur eines: Relativierung des eigenen Standpunkts, Anerkennung verschiedener Positionen, Besinnung auf Gemeinsamkeiten, Abkehr von Prinzipienreiterei, Bewusstmachung der eigenen Befangenheiten und Irrationalitäten. Das ist Aufgeschlossenheit, die universalistische Perspektive. Die schlichte alte Einsicht, dass uns als Menschen mehr verbindet als uns trennt.
Aufgeschlossenheit als Wert versöhnt übrigens das Rollenbild des Unternehmers mit dem des Künstlers.

Humor und Ethik
Ich sehe eine Parallele zwischen Unternehmertum und Künstlertum durch die Wesensverwandtschaft von Innovation und Humor. Worin besteht diese Parallele? Innovationsfähigkeit und Humor sind dadurch verwandt, dass sie durch ungewöhnliche Assoziationen und Vorstellungskraft einen Erkenntnisfortschritt herstellen. Beide Talente haben zu tun mit der Gabe, einen Gegenstand in einem neuen Kontext zu sehen, Dinge und Vorgänge anders zu beschreiben. Diese Gabe ist eine Qualität des Künstlers wie des Unternehmers. Man nennt sie Inspiration.
Aufgeschlossenheit ist ein Wert meines Handelns und meiner Entscheidung, aber ich muss sie als literarischer Arbeitgeber auch in den Texten finden, die ich zu beurteilen habe. Dabei interessieren mich die Personalpronomen der Person, die den Text verfasst hat, nicht im geringsten. Da bin ich ganz insensitiv. Literatur hat universal zu sein, nicht sensitiv. Aufschlussreich mag klingen, was der Duden als Synonyme für «Sensitivität» anbietet, nämlich unter anderem: Dünnhäutigkeit, Zartbesaitetheit, Rührseligkeit, Überempfindlichkeit. Das sind genau die Eigenarten unserer Zeit, die ich nicht abkann.
Humor hingegen ist eine Qualität, die womöglich immer seltener wird, besonders in ihrer zivilisiertesten Form, der Ironie. Denn Ironie ist die natürliche Feindin der Eindeutigkeit, der Identitätspolitik, des Dogmatismus des Selbst.
Vielleicht haben Sie sich gewundert, dass ich über Kategorien wie Kitsch und Humor gesprochen habe, aber das sind wichtige Niveauanzeiger für den Kulturstand, der uns umgibt.
Humor und Ironie sind eine Quelle des Wissens und Grundlage der Aufgeschlossenheit. Wir leben in Zeiten, da auch der Begriff der Skepsis eine Verdrehung erfahren hat und jetzt oft aufwertend für paranoiden Argwohn benutzt wird. Ich benutze Skepsis im traditionellen diskursiven Sinne der Aufklärung, wenn ich sage: Für mich ist stets Skepsis am Platz, wenn Humor abwesend ist und stattdessen Moralismus in Erscheinung tritt. Es hat immer etwas Primitives, Moral da anzubringen, wo sie nichts zu suchen hat. Sehr schön ausgedrückt hat das schon vor Dekaden der Soziologe Niklas Luhmann, mit dessen Worten ich schließen möchte. Sie lauten: Aufgabe der Ethik ist es nicht, eine Moral zu begründen. Sondern vor der Moral zu warnen.


Dr. Philipp Tingler, Schriftsteller und Philosoph, trug diesen Text bei der IV-Arbeitgebertagung der SVA Zürich vom 5. April 2022 vor. Die vorliegende Veröffentlichung vom 2. Oktober 2023 wurde vom Autor genehmigt.

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