Das Dorf als Person

Entre nous, Ruth Loosli!

Ruth, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
Die quirlige Figur heisst ja Wila (und wurde von Camille Luscher als «Ouila» übersetzt; hier beginnt schon die grosse Lust am Spiel), und ich habe sie tatsächlich teilweise auf dem Weg nach Wila (ein Dorf im Tösstal bei Zürich) beobachtet und notiert. Später durfte ich im Literaturhaus in Ventspils, Lettland, an dem Geschichtenband «Wila»/«Ouila» arbeiten.

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Neruda sagt: «Viele sind wir», und als ich das Schild am Eingang des Dorfes sah, war mir klar, dass dies meine neue Figur ist, ein ganzes Dorf in einer einzigen Person. Also kann diese dick, dünn, alt oder jünger sein.
Die Geschichten um die Figur Wila/Ouila entstanden nach und nach. Ich war alleinerziehende Mutter von Pubertierenden und erlebte eine Menge komischer Situationen. Alles zwischen Komik und Verzweiflung, sozusagen. So floss auch das eine oder andere mit ein in die Geschichten. Es geht um das ganz normale Leben und wie man es bewältigen kann oder eben nicht.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Die Komplexität jedes einzelnen Menschen, seine Geschichte, und weshalb er sie gerade so erlebt und erzählt. Die Wissenschaften interessieren mich, die sich mit der Entwicklung des Menschen auseinandersetzen, also Philosophie, Psychologie und Neurologie. Aber auch die Religionswissenschaft, die uns verstehen hülfe, wie wir zusammen leben können mit ganz verschiedenen Modellen und Denkansätzen. Kopf und Herz zusammenbringen, auf einen einfachen Nenner gebracht.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Diese Themen beschäftigen mich, seit ich mein Denken als Denken wahrnehmen kann. Es war ein großes Glück, als ich Lesen lernen durfte, in die Schule gehen. Insofern plädieren meine Geschichten immer auch für Neugier und ungewohnte Denkmuster.
«Wila ist eine schöpferische Rebellin und sanfte Anarchistin», wie es die NZZ formulierte. Das gefällt mir sehr. Ich mag solche Figuren und finde, sie sind wieder wichtig in unserer Gesellschaft.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Glanz und Gloria! Ich schickte die kurzen Geschichten jeweils einer Freundin an ihren Arbeitsplatz, und sie reagierte oft umgehend und mit Gewieher. Es war aufregend, anregend und entladend, diese freche, eigensinnige und auch nachdenkliche Figur zu kreieren.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Erwartungen sind bekanntlich schwierig. Ich würde mir aber wünschen, dass diese Geschichten, die von Camille Luscher zum Teil sehr frei übersetzt wurden, den Weg in die Schulen finden würden. Man müsste es ausprobieren, aber ich denke, ab dem 10. Schuljahr müssten sie im Deutsch- und Französischunterricht einsetzbar sein. Die Verlegerin der Editions Samizdat, Denise Mützenberg, sagte mir kürzlich, sie hätte sich gewünscht, mit Wila Deutsch gelernt zu haben, dann könnte sie es heute vielleicht besser.

Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Es erfüllt mich mit Freude, dass nun erstmals ein Werk von mir zweisprachig erschienen ist. Mein Französischlehrer, der mir damals «Le petit prince» geschenkt hat, weil ich so schlechte Noten hatte, möge es finden und lesen.

Ruth Loosli, «Wila»/«Ouila», Geschichten, deut./franz., a. d. Deut.
von Camille Luscher, Editions Samizdat, Genf 2016, brosch., 121 Seiten.

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