Wege aus dem Bottich
Russland heute II/V: Prischwins Erzählung Der irdische Kelch
Die Jahre nach der russischen Revolution werden in Michail Prischwins grosser Erzählung von 1922 für alle Personen zu einer Versuchung ihres Glaubens oder zumindest ihrer moralischen Standfestigkeit. So wird der frühere Diakon zum Leiter der «Sauerkrautabteilung», und der hungrige, barfüssige Landlehrer sagt: «Wem soll denn jetzt die Seele am Herzen liegen? Selbst ich würde jetzt nicht für die Seele stimmen.» Ein Bruder ermordet den anderen, und nur die alte, einst steinreiche Landbesitzerin, die bei der Revolution alles verloren hat, bleibt höflich und friedlich.
«Der irdische Kelch» ist eine Erzählung über die Leiden eines Menschen, der sich keinesfalls vergöttlicht, der aber seinen Glauben, für den er verspottet wird, bewahrt hat. Alpatow, ein alter ego Prischwins, ist in dem Buch einer der wenigen noch Denkenden und auch der Einzige, der seinem Glauben treu bleibt. Er sitzt in der Finsternis, sieht aber die Welt mit hellen Augen.
Wenn man nicht über die eigenen Erfahrungen nachdenken will, so der Ansatz in dieser Meistererzählung, dann springt man in den Bottich, um in der gleichen Situation wie alle anderen zu sein. Und diese anderen versuchen, so viele wie möglich mit sich in den Bottich zu zerren, damit es allen gleich ergeht und ein jeder zum «Eigenen», «Unseren» wird.
Da ist in Prischwins Erzählung nur eine einzige Stimme im Volk, die «Halt!» ruft, aber die Stimme bleibt die des Predigers in der Wüste: Der irdische Kelch versinkt im irdischen Bottich. Selbst wenn der von Hunger gestorbene Alpatow «auferstünde», würde sich nichts ändern, weil es am Ende der Erzählung keine Grenze zwischen Erde und Himmel mehr gibt. Der irdische Bottich dehnt sich nach überall hin aus.
Swjatoslaw Gorodezkij
Michail Prischwin, «Der irdische Kelch», Erzählung,
aus dem Russischen von Eveline Passet, mit Nachworten von Eveline Passet und Ilma Rakusa, Guggolz Verlag, Berlin 2015, geb. 171 Seiten.