Parabel auf die Europäer

Entre nous, Jan Koneffke!

Jan, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
An den verschiedensten Orten. Ich habe ja bereits zwei Wahlheimaten, nämlich Österreich und Rumänien, an denen ich wiederum an drei Stellen arbeite, an meinen Schreibtischen in Wien, Bukarest und dem Karpatenort Maneciu. Zwischenzeitlich durfte ich aber auch im Lüneburger Heinrich-Heine-Haus wohnen. Und Ende 2019, als ich den Roman «Die Tsantsa-Memoiren» abschloss, war ich Residenzgast des Aargauer Literaturhauses. Diese vielen Ortswechsel passen aber auch zu einem Buch, das in Südamerika beginnt und dann in halb Europa spielt – und zwar von circa 1780 bis heute.

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Um eine außergewöhnliche, geradezu ex-zentrische Sicht auf die europäische Geschichte der vergangenen 250 Jahre. Nämlich aus den Augen eines lebendigen Schrumpfkopfs, der nach und nach ein Ich-Bewusstsein entwickelt und schließlich sprechen kann. Über seine wechselnden Besitzer kommt er viel herum, aber das immer abhängig vom Willen der anderen. Mein Erzähler ist zwar unsterblich – falls er nicht mutwillig vernichtet wird, was ihm auch immer wieder droht –, aber völlig hilflos. So wird er zur Metapher unserer heutigen Erfahrung von Geschichte: Obwohl wir Menschen sie selber machen, kommt es uns vor, als würden wir von ihr gewaltsam mit- und weggerissen.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Vor allem die Frage danach, wo wir herkommen. Nur ihre Beantwortung (oder der Versuch ihrer Beantwortung) erlaubt uns zu begreifen, wo wir gegenwärtig stehen und wohin wir gehen. In diesen Zusammenhang fallen natürlich die Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus, mit den Folgen des Kolonialismus, mit der Ausbeutung der Natur – das alles sind gegenwärtige Diskurse, die mein Buch auf seine gleichzeitig absurd-komische und grausam-schwermütige Weise mitverhandelt: So erweist sich der Vorgänger des erzählenden Tsantsa, also der Mensch, dem der Kopf noch auf den Schultern saß, als einer der deutschen Konquistadoren des 16. Jahrhunderts.
Man könnte meinen Roman folglich auch als Parabel auf die Europäer lesen, die sich mit der Ausbeutung von Natur und der Unterwerfung der Naturvölker als Naturwesen abgeschafft haben: Mein armer Tsantsa hat keinen Körper mehr, keine Muskeln, keine Nerven! Und durch das Skandalon des abwesenden Leibes ist der Körper durch das ganze Buch hindurch natürlich nur umso gegenwärtiger.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Von Themen spreche ich ungern, «Themen», das klingt mir für die Literatur zu journalistisch, die ja nichts Allgemeines illustriert, sondern von den besonderen, erschütterten, glückenden, misslingenden Leben erzählt. Aber es sind Dinge, die mich schon lange beschäftigen, ja. Meine «Kannmacher-Trilogie» ging der eigenen Familiengeschichte von 1890 bis in die Gegenwart nach. Der Verwicklung der Einzelschicksale in die oder ihre Ohnmacht gegenüber der Weltgeschichte. Schuldfragen. Ethische Fragen. Zwei Protagonisten der Kannmacher-Romane sind (scheiternde) Moralphilosophen, mein Tsantsa wiederum findet zu seinem Ich nur durch das kreatürliche Mitleid, das ihm ein Totenkopfaffe entgegenbringt ...
Neuer ist die persönliche Erfahrung von Todesnähe und chirurgischen Eingriffen in den Körper – sie waren vermutlich entscheidend für die Idee, einen sprechenden Schrumpfkopf zu meinem Erzähler zu machen, ein Wesen zwischen Leben und Tod, um seinen Körper betrogen, aber mit somatischen Bedürfnissen.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Mit Erleichterung – dass ich diesen Stoff bewältigt habe. Ich musste ja 250 Jahre Geschichte, Mentalitätsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, vergangene Lebenswelten, Vorstellungen in ganz unterschiedlichen Gegenden Europas recherchieren. Von der Geschichte der Schrumpfköpfe, die ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer fragwürdigen europäischen Mode wurden, ganz zu schweigen. Wenigstens war ich mir dabei immer meines «Helden» sicher, der auch irgendwie ich selber war.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buches?
Ich hoffe vor allem, dass sich die Leser auf diese Zeitreise aus exzentrischem Blickwinkel einlassen. Sie werden dafür, denke ich, mit vielen Geschichten belohnt (Spaß muss es machen, sonst macht es keinen Spaß, sagte schon Brecht), aber auch mit einer Vorstellung der Herkunft unserer Gegenwart.

Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
Meine poetologische Selbstauskunft lautete bisher, ich würde «Realismus als Traumarbeit» betreiben, denn meine Helden und Antihelden erzählten immer auch gegen die Wirklichkeit an, indem sie ihr den Wunsch, den Traum, die Fantasie entgegensetzten. In meinem neuen Buch, könnte man sagen, betreibe ich «Traumarbeit als Realismus», weil der Blick auf die Welt von einem fantastischen Erzähler ausgeht.


Jan Koneffke, «Die Tsantsa-Memoiren»,
Roman, Galiani-Berlin, Berlin 2020, geb., 560 Seiten.

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