Sehen lernen

Entre nous, Martina Clavadetscher!

Martina, wo hast Du Dein neues Buch geschrieben?
Diesmal ausschliesslich in der Schweiz; pandemiebedingt. In meiner Wohnung in Brunnen, in meinem Zimmer in Luzern, im Kopf zuerst konstruiert, unfassbar lange recherchiert, in Notizbücher gekritzelt, in den Computer getippt.

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Es geht in »Vor aller Augen« um Wahrnehmung. Um Sichtbarkeit. Um Verborgenes und um Geschichten, deren Erzählstimmen vergessen wurden, weil sie unter zu dominanten Schichten erstickt wurden, weil das reine Anschauen und die Objektivierung dieser in der Kunstgeschichte porträtierten Frauen lange genügt hatte. Es geht um einen längst fälligen Perspektivenwechsel – und es geht um Widerstand! Und last but not least: Es geht um die Kunst. Die neunzehn Episoden bilden eine »Kunstgeschichte«.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Der Widerstand. Und die Tatsache, dass den Menschen, insbesondere den Frauen, seit Jahrhunderten von Politik, Religion, Familie, Gesellschaft und Wirtschaft vorgeschrieben wird, wie sie ihr Leben zu leben haben. Das wurde in allen Biografien der porträtierten Frauen einmal mehr sehr deutlich. Und die Bewunderung, das Erstaunen darüber, dass diese Frauen immer einen Weg fanden; flexibel, innovativ und adaptierfähig. Kurz: Die Freiheit interessiert mich.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Nein, diese Themen sind nicht neu; und sie scheinen tatsächlich zu einem Leitmotiv zu werden.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Einerseits mit Erleichterung, die Recherche war wirklich sehr intensiv. Das Forschen in diesen fremden Leben war zwar faszinierend, aber eine Anstrengung; ausserdem spürte ich ein vorher nicht gekanntes Verantwortungsgefühl gegenüber den porträtierten Frauen. Ich wollte ihnen gerecht werden. Deswegen versuche ich auch, alle Bilder im Original zu besuchen; das bin ich ihnen schuldig. Aber ich habe erst sieben geschafft.

Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buchs?
Erwartungen – nein; aber ich habe die Hoffnung, dass die Rezeption der Kunstgeschichte vielleicht um eine zusätzliche Perspektive erweitert wird. Andere Sichtweisen, neue, unerwartete Stimmen; die Kunstgeschichte war nie eine lineare Angelegenheit, die nur von Männern geschrieben wurde, sie ist ein Netz, gesponnen von vielen Akteur:innen.

Wie würdest Du es einordnen in der Reihe Deiner Publikationen?
Mein viertes Buch, das Buch nach »Die Erfindung des Ungehorsams« – möglicherweise überraschend anders –, und ein Buch vor dem nächsten Buch.


Martina Clavadetscher, »Vor aller Augen«,
Roman, Unionsverlag, Zürich 2022, geb., 288 S.

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