Ohne Habitus
Entre nous, Waseem Hussain!
Waseem, wo hast Du Dein Buch geschrieben?
Das war im Café Odeon in Zürich und daheim auf dem Sofa liegend, alles in Handschrift auf Papier. Die Entwürfe habe ich ins Notebook getippt, ausgedruckt und, wieder mit dem Stift in der Hand, an etlichen Schreib- und Cafétischen überarbeitet. Einzig der Untertitel - »Eine indische Tragödie« - entstand auf der Tastatur.
Als ich die Erzählung fertig geschrieben hatte, wusste ich, dass ich sie mit Bildern einer Künstlerin oder eines Künstlers zu etwas Neuem, Eigenständigem verbinden wollte. Ich bin glücklich, dass es die fotografischen Arbeiten von Sascha Reichstein sind, die den Band vervollständigen. Durch unsere Zusammenarbeit ist ein literarisch-künstlerisches Werk entstanden; jedes Mal, wenn ich das Buch in die Hand nehme, spüre ich gleichzeitig Ruhe und Anspannung.
Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Eurem Buch?
»Habitus« zeigt, wie schmerzhaft es ist, seinen Platz in der Welt zu behaupten, wenn andere bestimmen, wer man sein darf.
Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Kürzlich las ich einige Kurzgeschichten und Gedichte, die ich in meiner Kindheit und Jugend geschrieben habe und merkte, dass ich schon damals ergründen wollte, wie der Mensch zu Macht kommt und wie er sie wieder verliert; was Banknoten und Münzen mit ihm machen; welchen Zwecken unsere Sexualität dient; was in einzelnen Wörtern und in ganzen Begriffen codiert wird, wie die Decodierung gelingt oder warum sie scheitert, warum unser Habitus sich verändert, wenn wir das Habitat wechseln.
Dieses Wundern ist verwoben mit dem internationalen und interkulturellen Blick, der mir in die Wiege gelegt wurde. Ich denke in Deutsch und Englisch, meine Träume sind in Urdu, Deutsch und Englisch, aber ich fühle fast immer in Urdu, selten in Englisch und nie in Deutsch. Weder die Schweiz noch Europa habe ich je als Mittelpunkt oder als den kultiviertesten Teil der Erde gesehen, ich betrachte die Welt und den Menschen gleichzeitig von mehreren Schollen aus. Eine Mentorin sagte treffend: »Du tanzt gleichzeitig auf vielen Böden.«
Sind diese Themen für Dich neu oder ein Leitmotiv Deiner Arbeit?
Der Globalisierung des christlich-abendländischen Kanons – heutzutage wird er von seinem Kern ablenkend westlich genannt, manchmal mit dem Zusatz demokratisch, um Legitimität vorzutäuschen – misstraute ich seit langem.
Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Ich meine, mich an ein Delirium zu erinnern. Es befiel mich, kaum, dass ich mich entschlossen hatte, das Roman-Manuskript, an dem ich seit einiger Zeit arbeite, beiseite zu legen. Ich brauchte Distanz und Ferien oder wenigstens eine Pause. Es waren die letzten Tage des Jahres 2023, der Kühlschrank war voll, ebenso das Weinregal, der Kalender dicht mit Verabredungen. Aus dem Nichts rückte von hinten rechts eine Stimme über meine Schulter heran: »Schreib mich«, sagte sie. Ich war wehrlos.
Hegst Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption Eures Buchs?
Vermutlich werden Menschen, die Indien anhimmeln, sich grässlich aufregen, weil es in »Habitus« unter anderem um eine Seite des Landes geht, die dem folkloristischen Mischmasch aus Gandhi, Curry, Yoga, Mowgli, Bollywood und romantisierter Armut (›sieh nur, sie haben nichts, trotzdem sind sie so freundlich‹) widerspricht.
Auf Reaktionen aller anderen Leserinnen und Leser bin ich sehr gespannt. Sie werden erkennen, dass Indien weder nur konkret noch singulär gemeint ist und dass der Ich-Erzähler, Khemji, ebenso gut López heissen und sich einen japanischen Habitus aneignen könnte, oder Stäubli einen ugandischen, Mbembe einen israelischen, Kobayashi einen schweizerischen.
Wie würdest du es einordnen in die Reihe Deiner Texte?
Der Taumel, der mich befiel, sorgte dafür, dass ich den Stoff dieser Erzählung durch das Aufschreiben und Veröffentlichen aus dem Weg räumen konnte. Er wollte sich in meinen entstehenden Roman einmischen. Was bin ich froh, das nicht zugelassen zu haben!
Waseem Hussain und Sascha Reichstein (Fotos), »Habitus«,
mit einem Essay von Silvia Henke, editionR, Ennetbaden 2025, geb., 141 S.