Versklavende Macht

Entre nous, Markus Günther!

Markus, wo hast Du Dein Buch geschrieben?
Es gibt einen Sehnsuchts- und Rückzugsort in meinem Leben, das ist die Insel Norderney. Da war ich als Kind, und dahin zieht es mich heute noch oft. Im Herbst 2013 war ich allein dort und habe den größten Teil von «Weiß» geschrieben. Es war sehr kalt und regnerisch. Da fiel der Rückzug ins Innere also noch leichter. Nur zwischendurch bin ich mal den Strand abgelaufen, habe mir den Wind um die Nase pfeifen lassen und bin dann rasch wieder an den Schreibtisch zurückgekehrt, sobald ich kräftig durchgefroren war. Gestärkt von Thiele Broken Silver (das ist der ostfriesische Schwarztee, den man dort trinkt) ging es dann wieder weiter…

Worum geht es, Deiner Meinung nach, in Deinem Buch?
Ich glaube, der Gedanke stammt von dem Germanisten Hermann Kurzke: Die Gebrauchsanweisung für eine Waschmaschine sollte genau eine Interpretation zulassen, ein guter Roman aber möglichst viele. Man könnte den Gedanken weiterspinnen: Wenn es umgekehrt ist, handelt es sich um einen schlechten Roman - und mit der Waschmaschine wird es Probleme geben.
Also kurz, ich denke, daß man «Weiß» auf ganz unterschiedliche Arten lesen kann. Aus meiner Sicht geht es einmal um Sexualität, darum, daß wir uns als Liebende immer ein Stück fremd bleiben und einander Rätsel aufgeben. So nahe wir uns auch sein wollen, es gibt da Grenzen, auch Grenzen des Verstehens. Davon handelt diese Geschichte. Aber es ist zugleich auch noch etwas anderes, nämlich das Portrait zweier Menschen, die sich vom Rest der Welt weit entfernt haben, die sich statt dessen eine eigene Welt erschaffen wollen und es dabei erstaunlich weit bringen. Alles in ihrem Leben ist gestaltet und durchdacht, nichts ist zufällig, das Haus ist ein architektonisches Meisterwerk, die Natur des Gartens ist gebändigt und in einen feinsinnigen Skulpturenpark verwandelt, ihre Sprache ist in jedem Moment klug und stilvoll, ihr Umgang miteinander respekt- und liebevoll. Um all das muss man sie beneiden. Ich mag sie so, wie sie sind. Doch auch die beiden mit ihrer Klugheit, Bildung, ihrem Geschmack und ihrer starken Beziehung entkommen nicht den nackten, sozusagen existentiellen Realitäten des Lebens, also: Kinderlosigkeit, Älterwerden, Einsamkeit, Krankheit, Enttäuschungen, verpasste Chancen. Und schließlich ist das Buch eben auch eine Hommage an die Farbe «Weiß», eine rauschhafte Liebeserklärung an diese Farbe. Es gibt viele Menschen, die diese Liebe teilen, glaube ich, auch wenn hier eine übertriebene und obsessive Art dieser Liebe geschildert wird.

Welche Themen, Geschichten, Diskurse interessieren Dich zurzeit grundsätzlich?
Am leichtesten würde mir die Antwort fallen, wenn ich nach dem gefragt würde, was mich zurzeit am allerwenigsten interessiert. Dann wäre meine Antwort: Politik, Nachrichten, Aktuelles Zeitgeschehen. Ich habe immer stärker das Gefühl, mich von diesen Dingen lösen zu müssen, weil ich sonst Tag und Nacht damit beschäftigt bin, das alles aufzunehmen, was da auf uns einströmt und mit so viel Hysterie und Alarmismus und Wichtigtuerei nonstop abgefeuert wird. BREAKING NEWS!!!!!! In dem Maße, in dem die Internet- und Nachrichtenwelt die Lautstärke erhöht, beschleunige ich meinen Laufschritt in Richtung Wald, Stille, Natur, Kunst, Gebet, Schreiben, Lesen und Gespräch. Wer bin ich? Wozu bin ich in der Welt? Was kann ich mit meiner Zeit und meinen Kräften tun? Was kann ich anderen geben? Wie würde ich gern am Ende meines Lebens auf mein Leben zurückblicken? Das sind die Fragen, die mich beschäftigen – wenn man einmal absieht von den ganz alltäglichen Dingen, also: Kinder, Familie, das neue Buch.

Sind diese Themen für Dich neu oder eher ein Leitmotiv in Deiner Arbeit?
Neu ist für mich nur, daß dieses mediale Dauerfeuer durch die ständige Präsenz des Internets heute viel extremer und für mein Leben viel bedrohlicher ist als vor fünf oder zehn Jahren – ganz zu schweigen von den Zeiten, in denen man sich mit den Nachrichten nur ein- oder zweimal am Tag beschäftigt hat. Die Gefahr, sich in den Nichtigkeiten des Augenblicks zu verlieren, war noch nie so groß wie jetzt. So erlebe ich das. Wir müssen unser eigenes Leben und Denken und Fühlen verteidigen gegen diesen Ansturm von dem, was sich Kommunikation und Information nennt, in Wahrheit aber eine versklavende Macht ist.

Mit welchen Gefühlen schaust Du auf die Niederschrift zurück?
Für mich war das eine gute Zeit in meinem Leben, eine hoffnungsvolle und kreative Zeit.

Hast Du bestimmte thematische Erwartungen an die Rezeption des Buches?
Ich habe darüber beim Schreiben nicht nachgedacht und später auch nicht. «Weiß» ist kein Buch, das auf Zustimmung oder Begeisterung abzielt, man kann sich auch nicht so einfach mit jemandem in dieser Geschichte identifizieren. Aber natürlich wünsche ich mir wie jeder Schriftsteller Leser, denen das etwas sagt, die damit etwas anfangen können und die den einen oder anderen neuen Gedanken darin finden.

Wie würdest Du es einordnen in die Reihe Deiner Bücher?
«Weiß» ist nicht mein erstes Buch, aber mein erstes literarisches Buch. Für mich hat damit ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Ich wollte damals all die Fesseln ablegen, mit denen jeder langjährige Journalist gebunden ist, sprachlich und auch gedanklich, ich mußte mich erst einmal freischwimmen. Und das ist, unabhängig von allen anderen Erfolgs- oder Misserfolgsmaßstäben, gelungen. Ich fühle mich jetzt gedanklich und sprachlich freier, ungebundener, offener. Also hoffe ich, daß «Weiß» der Anfang eines literarischen Weges für mich ist.

Markus Günther, «Weiß», Roman,
Dörlemann verlag, Zürich 2017, geb., 192 Seiten.

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